Schwerin - Nancy - Beirut - Paris Nawal Solh hat es mit der Internationalen Politik
„Ich hatte Glück. Ich bin ja in Schwerin aufgewachsen und während meiner Schulzeit habe ich außer Englisch auch Französisch gelernt. Und zuhause Arabisch.
Am „Fritz“ hatte ich die Chance mit einer Schülerdelegation an Sitzungen des Europäischen Jugendparlaments (EYP) teilzunehmen. Mit Jugendlichen aus anderen Nationen haben wir in Ausschüssen gearbeitet und eine Resolution für die Generalversammlung des EYP vorbereitet. Das Ganze natürlich auf Englisch. Sicher wurde dabei mein Interesse für die internationale Politik geweckt. Und ich habe gelernt: Dialog hilft dem Friedensprozess. Da möchte ich gerne einen Beitrag leisten!
Nach dem Abitur 2017 wollte ich an der FU Berlin Politik- und Sozialwissenschaften studieren. Dort gibt es einen Studiengang, der mit einer Hochschule in Frankreich kooperiert. Das hat nicht geklappt, und ich hatte schon fast aufgegeben, als ich einen Anruf erhielt und gefragt wurde, ob ich nicht direkt in Nancy am „Deutsch-Französischen Campus“ der Hochschule Sciences Po Paris studieren wolle. – Natürlich wollte ich.
Mein Vater hat mich dorthin gefahren und ich habe meine erste eigene Wohnung bezogen. Nancy ist eine Studentenstadt. Es ist da echt lebendig. Zwei Jahre war ich dort.
Immer wieder war ich in meinem Leben ein bisschen anders als andere. Zwei Jahre an der ECOLEA war das einzige Mädchen mit arabischen Wurzeln. … Und in Frankreich war ich jetzt die „Ossi“, die Einzige aus den neuen Bundesländern in unserem Studiengang. Sie nannten mich „die mit dem Schloss“, weil ich natürlich Bildern von Schwerin gezeigt hatte.
Das dritte Jahr mussten wir an eine Hochschule in einem anderen Land wechseln. Ich habe mich für den Libanon entschieden. Mein Vater kommt daher und auch meine Mutter, eine Palästinenserin, hat dort gelebt. Das Land meiner Familie kannte ich bis dahin nur von Urlaubsreisen und nun hatte ich die Chance, meinen Bezug zu ihrem Land zu vertiefen und zu prüfen, was meine libanesische Herkunft für mich bedeutet.
In Beirut ging es an die Libanesisch-Amerikanische-Universität. Viele internationale Studenten sind dort. Überhaupt, von Beirut war ich überrascht. Ich kannte bisher den Ort, in dem meine Großmutter wohnt und das Dorf meines Vaters. Die Klischees, die viele Leute von arabischen Städten haben, erfüllt Beirut wirklich nicht. Die jungen Leute sind offen, der Alltag ist unkompliziert und auch das Nachtleben hatte ich nicht erwartet. Cafés, Clubs – manches eher versteckt im Hinterhof, aber sehr lebendig. Und vieles davon spielt sich am Rand des Hafens ab. Für mich war es eine „Neuentdeckung“ ihres eigenen Landes.
Hier war ich Gleiche unter Gleichen - fast. Ich sah aus wie die anderen, sprach wie die anderen und war dann doch die "Ausgewanderte".
Ich glaube, die Libanesen werden unterschätzt. Viele junge Leute studieren und gehen danach nach Frankreich oder Kanada oder so. Ein wesentlicher Teil des Reichtums des Landes ist der libanesischen Diaspora im Ausland zu verdanken. Und auch jetzt in dieser schrecklichen Situation nach der schweren Explosion wollen viele von ihnen helfen. Zugleich möchten viele, die im Land sind, am liebsten sofort auswandern. Das ist doch verrückt.
Im Oktober 2019 bin ich mit Kommilitonen und Freunden unter den tausenden Menschen, die in Beirut gegen Korruption und Misswirtschaft demonstrieren, auf die Straße gegangen. An der Hochschule gab es kein anderes Thema mehr. In Vorlesungen haben wir versucht, das Ganze zu analysieren, und dann waren wir wieder draußen auf der Straße. Mein Papa hat sich Sorgen gemacht. Aber ich wollte bleiben. Hier wurde Geschichte geschrieben.
Doch die Corona-Pandemie bremst die Proteste im Land. Die Lock-Down-Bedingungen waren sehr streng. Viel strenger als in Deutschland. Das Studienjahr ging zu Ende und ich bin dann zu meiner Oma gezogen. Viele Kommilitonen haben den Libanon verlassen.
Ich hatte für Juni/Juli einen Praktikumsplatz beim SPD-Abgeordneten Frank Junge im Bundestag in Berlin, und da war auch für mich klar, dass ich gehen muss. Die libanesische Fluggesellschaft Middle East Airlines hat Ende Mai 2020 Libanesen aus Deutschland ausgeflogen. Und mit einer der Maschinen konnte ich ausreisen. Der Flughafen Beirut war zu dem Zeitpunkt noch geschlossen und wurde nur für die Evakuierungsflüge genutzt.
Das Ticket war mit 1.200 $ fast dreimal so teuer wie sonst und musste in US $ bezahlt werden. Einen Rückflug musste ich zwingend mit buchen, sonst hätte ich nicht ausreisen können. Gut, ich dachte, flieg ich halt zurück und hole noch ein paar Bücher und Sachen.
Das sollte am Samstag. 01.08.2020 sein. Aber den Flug habe ich verfallen lassen. Zum Glück, den vielleicht wäre ich während der Explosion ein paar Tage später im Hafenviertel gewesen. Viele meiner Freunde haben ihre Wohnungen verloren. Verletzt ist keiner von ihnen. Auch das ist Glück.
Für viele Auslandslibanesen und auch für mich ist auch für mich kaum auszuhalten, hilflos zuzuschauen, was in dem Land passiert. Aber was soll man erwarten von einem Land, das für die Flugtickets der landeseigenen Fluggesellschaft ausschließlich US-Dollar verlangt und die eigene Landeswährung ablehnt. Da stimmt doch etwas nicht.
Ich fühle mich hier in Schwerin bei meiner Familie aufgehoben. Sie unterstützt mich auf meinem Weg und das ist wirklich toll.
Im September fange ich mit dem Masterstudium an der „Paris School of International Affairs“ an. Fachrichtung: „Internationale Sicherheit“. Erstmal ist das alles online. Da werde ich viel Zeit in der Landesbibliothek verbringen, denn da kann man prima lernen und arbeiten. - Naja, und nach dem Abschluss vielleicht in den Diplomatischen Dienst oder zu einer Internationalen NGO? Mal sehen. Vielleicht habe ich ja wieder Glück.“