Integrationsbeauftragte der Landesregierung MV Reem Alabali-Radowan Schwerin
Im Mai 2015 kommt Reem Alabali-Radovan zurück an einen Ort ihrer Kindheit, der eine Wendung in ihrem Leben bedeutet hat: die Erstaufnahmeeinrichtung in Nostorf-Horst in Mecklenburg-Vorpommern. Ihre ersten Tage in Deutschland verbringt sie hier. Es liegen fast 20 Jahre dazwischen. Heute ist Reem Alabali-Radovan die Integrationsbeauftragte der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern mit Amtssitz in Schwerin.
Damals ist die kleine Reem gerade einmal 6 Jahre alt. Mit ihren Eltern kommt sie aus Moskau nach Deutschland. Dort ist sie am 1. Mai 1990 geboren. „Ich habe noch eine Geburtsurkunde der Sowjetunion!“, lacht sie. „Meine erste Muttersprache war Russisch und das, obwohl meine Eltern eigentlich aus dem Irak stammen und Arabisch sprechen.“ In Moskau studieren ihre Eltern Ingenieurswesen, die Mutter im Bereich Straßenbau, der Vater im Bereich Fahrzeugtechnik. „Mein Vater und meine Mutter haben Russisch miteinander gesprochen, damit sie im Studium klarkommen. Das war für mich normal. Im Kindergarten habe ich dann Lesen und Schreiben gelernt.“
Von Moskau nach Schwerin
Ihre Eltern hatten sich bereits vor dem Studium in Moskau am politischen Widerstand des Irak beteiligt. In der Zeit des Studiums ändern sich die politischen Verhältnisse im Irak und in Russland. Eine Rückkehr in den Irak ist ausgeschlossen. Sie gehen nach Deutschland, sind anerkannte Flüchtlinge. „In die erste Klasse kam ich in Waren an der Müritz.“, so Reem Alabali-Radovan. Die Eltern entscheiden, aus der dortigen Gemeinschaftsunterkunft nach Schwerin zu gehen. Rostock war eine Alternative. Aber die Erinnerungen an die Ereignisse in Lichtenhagen waren noch sehr lebendig. „Mit uns kamen damals eine Reihe von Irakern, Armeniern, Spätaussiedlern und jüdischen Emigranten nach Deutschland. Wir hatten hier recht schnell einen internationalen Bekanntenkreis.“
Reem kommt gut mit in der Schule. „Vielleicht lag das auch an der strengen Vorschule in Moskau. Manche Gleichaltrigen mussten bereits die erste oder zweite Klasse wiederholen.“, so Alabali. Sie lernt Deutsch und jetzt auch Arabisch. In der vierten Klasse erhalten alle einen Flyer mit Informationen über weiterführende Schulen. „Das war keine echte Schullaufbahnberatung. Meine Eltern hatten das deutsche Schulsystem noch nicht recht verstanden, ich aber war zielstrebig und musste mir selbst helfen.“ Die Zehnjährige entscheidet sich für das Fridericianum. „Es war der altsprachliche Schwerpunkt der Schule. Das hat mir gefallen. Ich dachte: Sprachen, das ist es.“
Warum Menschen ihr Heimatland verlassen.
Die Gründe, ein Land dauerhaft oder vorübergehen zu verlassen, sind vielfältig. Leitmotiv ist meist der Wunsch nach einem besseren Leben. Dabei sind Flucht vor Krieg, vor Verfolgung, politischer Instabilität, Klimakatastrophen oder Vertreibung oft die ersten Gedanken. Wie bei den Eltern von Reem Alabali kann es auch die Ausbildung oder das Studium sein, mit dem der Wunsch nach wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit erfüllt werden soll. Auch Arbeitsmigration spielt in Deutschland eine wesentliche Rolle. Ein langfristiger Aufenthalt ausländischer Arbeitskräfte stand weder in der DDR für die „ausländischen Werktätigen“ noch im Westen für die sogenannten „Gastarbeiter“ zu Debatte. In der Folge bleiben die Arbeitsmigranten in West und Ost oft Zeit lange unter sich. Nichtsdestotrotz suchen eine Reihe von ihnen den Anschluss an die neue Gesellschaft und Menschen in beiden deutschen Staaten gehen auf die ausländischen Mitbürger zu. Dennoch vergehen viele Jahre, bis erkannt wird, dass sich ein gutes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft in Deutschland nicht immer und überall von allein ergibt und es Strukturen braucht, die Integration fördern.
Die eigenen Erfahrungen prägen
Reem und ihre Familie erleben das hautnah. Als Flüchtlinge erhalten sie materielle Hilfe in Deutschland, doch ihre Studienabschlüsse werden nicht anerkannt. Der Weg in den Arbeitsmarkt, ein wichtiger Schritt in die Normalität, ist schwierig. „Meine Geschwister sind jünger. Sie sind in Schwerin geboren. Natürlich kennen sie die Geschichte unserer Familie und wissen um unsere chaldäisch-arabische Herkunft, aber in ihrem Alltag spielt das keine Rolle mehr.“, so Alabali-Radovan. Bei ihr war und ist das anders. Sie will nach dem Abitur unbedingt Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt „Naher und mittlerer Osten“ an der Freien Universität Berlin studieren. „Ich wollte an die FU wegen der Geschichte der Universität.“, erinnert sie sich. Die FU Berlin beruft sich in ihren Grundwerten bis heute auf ihren Gründungsziele, die sie in ihrem Wahlspruch „Veritas - Iustitia – Libertas“, also Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit ausdrückt. So ganz hat das Studium den Erwartungen von Reem Alabali nicht entsprochen. „Irgendwie war es konservativer als ich dachte. Die FU ist schon eine Massenuniversität und für ein Politikstudium wünsche ich mir kleinere Gruppen, in denen auch richtig diskutiert werden kann.“
Die UN sind auch nur eine Behörde
Reem Alabali-Radovan reist im Studium nach New York und wirkt an simulierten Beratungen der Vereinten Nationen mit. „Die Teilnahme am „Model United Nations“ war wirklich toll. Da wollte ich auch gerne später einmal arbeiten Wir konnten mit Studenten, Diplomaten und UN-Mitarbeitern aus zahlreichen Ländern sprechen, Fragen stellen und uns austauschen. Aber ich habe auch gemerkt, die Vereinten Nationen sind eine große Verwaltung und die Handlungsspielräume von Diplomaten sind eher klein. Das war doch recht ernüchternd.“
Für ihre Bachelorarbeit wählt sie 2013 den syrischen Bürgerkrieg als Thema. „Man konnte schon damals ahnen, dass dieser Krieg schwerwiegende Folgen haben würde.“, meint sie. Von 2012 bis 2014 ist Alabali-Radovan wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Orient-Institut und Länderreferentin beim Nah- und Mittelost-Verein e.V in Berlin. „Wir haben dort unter anderem Delegationen in die Region vorbereitet und durchgeführt.“, sagt sie und erinnert sich auch an erste Reisen mit ihren Eltern in den Irak. „Ich habe meine türkisch- und arabischstämmigen Freunde immer beneidet, wenn sie in den Ferien dorthin zu ihren Omas fahren konnten. So etwas wie Heimat hatten wir im Irak nicht mehr. Erst konnten wir überhaupt nicht dorthin. Dann fuhren wir an die Orte meiner Eltern. Aber auch da ist nichts Verbindendes mehr. Es gibt kaum noch Verwandte. Eigentlich stammen wir aus Bagdad. Dort war ich aber noch nie.“
Zurück in Nostorf-Horst
2015 orientiert sich Reem Alabali-Radovan neu. Die Quereinsteigerin beginnt in der Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst als Mitarbeiterin des Amtes für Migration und Flüchtlingsangelegenheiten des Landesamtes für innere Verwaltung Mecklenburg-Vorpommern. „Es war schon ein komisches Gefühl erneut an diesen Ort zu kommen. Ich habe mich öfter in den Kindern dort wiedergesehen. Das hat mich sehr berührt.“, sagt sie. „Wir waren Anfang 2015 noch ein kleines Team. Die Arbeit wurde schnell mehr und ich musste lernen, was „Verwaltung“ heißt. Wir mussten schnell und flexibel sein. Eine Zeitlang war es hilfreich, dass ich Arabisch spreche. Doch meine Rollen als Übersetzerin und Mitarbeiterin mit Entscheidungsbefugnissen haben sich nicht immer gut vertragen. Das wurde besser, als mehr Sprachmittler beschäftigt wurden und ich nicht mehr übersetzte.“ Alabali-Radovan ist gut 3 Jahre in Nostorf-Horst und der Außenstelle Schwerin Stern Buchholz in verschiedenen Funktionen tätig.
Ins Ministerium
„Das ist meine Stelle!, habe ich da gedacht als ich die Stellenausschreibung für die Leiterin des Büros der Landesintegrationsbeauftragten im Ministerium für Soziales, Integration und Gleichstellung sah. Es war gut, dass ich im Landesamt viel gelernt hatte. Jetzt hat mich der direkte Bezug zur Politik gereizt“, lacht sie. 2018 beginnt für sie als Mitarbeiterin der damaligen Integrationsbeauftragten, Dagmar Kaselitz, eine neue Zeit. „Im Studium erfährt man nicht, wie die Prozesse real in der Landespolitik aussehen oder wie ein Ministerium tatsächlich arbeitet. Eine der Aufgaben der Integrationsbeauftragten ist es ja, die Politik mit der Verwaltung des Landes, den Kommunen, der Zivilgesellschaft, also auch den Ehrenamtlichen und den Migrantenselbstorganisationen zu verbinden.“, sagt Reem Alabali-Radovan. Seit Januar 2020 ist sie nun selbst Landesintegrationsbeauftragte und hat in Verlauf der letzten Monate einiges auf den Weg gebracht. „Die interkulturelle Öffnung der Verwaltung ist ein Schwerpunkt. Mit allen Abteilungsleitungen aus den Ministerien und Dr. Hubertus Schröer vom Institut-Interkulturelle Qualitätsentwicklung München haben wir einen Blick auf das Thema Diversität geworfen. Für einige war das eine sehr ungewohnte Perspektive.“,sagt sie.
Sie setzt Themen
Weitere aktuelle Themen der Ansprechpartnerin in Sachen Migration sind die Stärkung von Migrantenorganisationen und Unterstützung der Bildung von regionalen Migrantenbeiräten, aus ihrer Sicht wichtige Akteure, wenn es um Vielfalt, Toleranz und Demokratie geht. Und ein Dauerbrenner ist es, viele Menschen für die Idee einer offenen Gesellschaft zu gewinnen. Wie es nach den Landtagswahlen 2021 beruflich für Reem Alabali-Radovan weitergeht ist offen. „Klar ist, ein reiner Verwaltungsjob soll es nicht sein.“ Mit ihrem Master-Fernstudium an der TU Kaiserslautern zur „Nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit“ bereitet sie sich schon einmal vor. „Schön wäre es, wenn Vielfalt als Normalität in unserer Gesellschaft noch besser akzeptiert wird. Das ist mein größter Wunsch. Da würden sich viele Probleme von allein lösen.“
@Foto Anne Jüngling