Ein bisschen so etwas wie ein Pastor ohne Gemeinde. Christiaan Kooiman aus den Niederlanden
„Bitte nicht stören“ steht auf dem Schild an der Tür zu seinem Büro im „Patchwork-Center“ in der ehemaligen Posthalle, nicht weit vom Schweriner Fernsehturm, an der Hamburger Allee. „Ich kann das Schild zwar aufhängen, aber ohne Störungen geht es bei mir fast nie.“, sagt Christiaan Kooiman, lächelt und läuft los, sucht für sein Team alles zusammen, was für das Waffelbacken an der „Schule am Fernsehturm“ gebraucht wird und kommt zurück an seinen Schreibtisch.
Der Niederländer (33) ist Theologe. Er leitet das „Patchwork Center“. „Ich bin ein bisschen so etwas wie ein Pastor ohne Gemeinde“, so Kooiman, der vor fast 10 Jahren als Missionar für die Europäische Christliche Mission (ECM) in die Landeshauptstadt gekommen ist. Als älterster Bruder ist er mit vier Geschwistern in Deventer aufgewachsen. Schon als Schüler wollte er gerne Missionar werden Sein Weg führte ins Theologiestudium, zunächst nach Appeldorn und später nach Leuven, Belgien. Hier lernt er seine Frau, Kseniya, kennen. Sie kommt aus Weißrussland, ist auch Theologin und engagiert sich ebenso im Stadtteil.
Ziel: die atheistische Hochburg MV
Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 war er das erste Mal in Mecklenburg-Vorpommern. Damals - in Barth, Rostock und Schwerin - hat er sich in das Land verguckt. Er mag die Weite und die Mentalität der Leute hier. Die Region gilt als atheistische Hochburg. Nur jeder Fünfte gehörte einer Kirche an. 79 % sagen, sie glauben nicht an Gott. Für christliche Gemeinden, auch für die freien evangelischen Gemeinden, zu denen Kooiman gehört, ist das eine wirkliche Herausforderung. Hier wollte er gerne arbeiten und leben.
„Ich konnte damals kein Deutsch, aber das Wort „Brennpunkt“ kannte ich. Naiv wie ich war, habe ich dann „Schwerin und Brennpunkt“ gegoogelt und sofort gesehen, der „Dreesch“, das ist der richtige Ort, da kann man viel machen.“ Und so zogen Kseniya und Christiaan Kooiman 2009 hierher, erstmal auf Probe.
„Als Niederländer hatte ich es wohl leichter hier als mancher „Wessi““, vermutet er. „Die gleiche Sprache zu sprechen, heißt ja nicht, auch die gleiche Kultur zu haben. Ostdeutschland hat eine eigene Geschichte. Als Ausländer hatte ich erstmal viel zu entdecken und zu lernen.“ Die Kooimans haben Kontakt am neuen Wohnort gesucht, sind in den Stadtteiltreff „Eiskristall“ gegangen, haben Anschluss gefunden und sind geblieben.
Kooiman engagiert sich bei der Kinder-Tafel. Er organisiert einmal im Monat das „Kepler Open Air“ im Mueßer Holz. Unter freiem Himmel gibt es Live-Musik, Kaffee und Tee, Gebäck, Suppe vom Feuer und die Gelegenheit, über Gott und die Welt zu sprechen. Bei jedem Wetter. Das macht er natürlich nicht allein. Vier weitere Familien gehören zum „Patchwork-Team“, Mitglieder der Freien ev. Gemeinde, der Ev. Lutherischen Petrus-Gemeinde und Vereine, Organisationen und viele Menschen vom Dreesch sind dabei.
Nazis und Muslime buddeln gemeinsam
In den vergangenen drei Jahren standen die Sanierung und Gestaltung des „Patchwork-Centers“ im Mittelpunkt. „Es war doch alles kaputt. Scheiben eingeschlagen, Dach undicht. Hier haben nur noch Katzen gelebt.“, sagt er. Das ist kaum vorstellbar, wenn man heute die hellen, großzügigen Räume sieht: Eine Holzwerkstatt, ein Café, die Näh-Ecke, ein Spielraum für die Kinder und eine Bühne für Veranstaltungen. „Wenn man ständig sagt, der Dreesch sei kein guter Stadtteil, zeigt dieses Gebäude doch das Gegenteil.“, so Kooiman. „Hier haben Nazis und Muslime gemeinsam gebuddelt, dabei muss man nicht viel reden. Die Leute waren unglaublich engagiert und einige sind es noch.“, ergänzt er. Das Café samt Küche führen zwei Frauen aus dem Stadtteil, an der Werkbank stehen ein paar Jungs aus der Nachbarshaft und bauen Insektenhotels, die Nähmaschine rattert. „Es fehlt uns aktuell ein bisschen die grobe Arbeit, bei der auch die Männer wieder gefragt sind.“, schmunzelt er und würde sich freuen, wenn es bald mit einem Anbau an der Werkstatt klappen würde.
Während des Gesprächs mit Christiaan Kooiman klopft es an der Tür, klingelt das Telefon, holt jemand schnell etwas aus dem Büro. Die kurzen Unterbrechungen machen klar: Alle sind willkommen! Im Patchwork Center, in Kooimans Büro. Sie können mitmachen, können ihren Glauben entdecken – müssen es aber nicht. Er fragt sich, wie es wohl wäre, wenn sich der Blick der Politik der Landeshauptstadt auf Neu Zippendorf und Mueßer Holz verändern würde, wenn man nicht immer denken würde, die Stadteile müssen unterstützt werden. „Wenn man mal andersherum die Potentiale der Menschen hier als Chance für die ganze Stadt sehen und sagen würde „Wir brauchen den Dreesch auch“, dann wäre das sicher ein richtiger und wichtiger Schritt.“, meint Christiaan Kooiman.
Da hilft nur aufeinander zuzugehen
Gemeinsam mit ihren zwei Kindern und der Labradorhündin, Koffie, wohnt die Familie hier im Stadtteil. Als echter Holländer fährt er viel mit dem Rad und erwartet das auch von seinen Kindern. Er freut sich, wenn Besuch aus den Niederlande Lakritze und „Hagelslag“, eine Art Schokostreusel, mitbringt. Zur Entspannung geht er gern in die Störwiesen. „Unser Garten ist mehr der Lieblingsort meiner Frau.“, lacht er. „Ich liebe die Stadt und ich liebe die Platte. Das sagen nicht alle im Team. Ich mag die Menschen hier. Sie sind bodenständig, direkt. Es ist ein bisschen wie im Dorf. Und es ist ein dynamischer Stadtteil. Als vor gut drei Jahren die Flüchtlinge kamen, hat sich viel verändert. Es gibt weniger Leerstand, neue Gesichter, neue Gerüche, neue Speisen, andere Musik, neue Sprachen! – Mir gefällt das. Aber einige der älteren Einwohner sind mit den Veränderungen überfordert. Da hilft nur aufeinander zuzugehen.“
Der Artikel ist (gekürzt) am 2019-04-01 auch in der Schweriner Volkszeitung SVZ erschienen.
Länderinfo Niederlande
Die Niederlande sind eines von vier autonomen Ländern des Königreiches der Niederlande. Zum Königreich gehören auch die karibischen Länder Aruba, Curaçao und Sint Maarten. Der Regierungssitz sowie die Königsresidenz in Den Haag liegen 60 Kilometer von der Hauptstadt Amsterdam entfernt. Flächenmäßig ist das Land, etwa doppelt so groß wie Mecklenburg-Vorpommern und hat mit 17 Millionen Menschen etwa zehnmal so viele Einwohner.
Wirtschaftlich geht es dem EU und Nato-Mitglied Niederlande gut. Die aktuelle Arbeitslosenquote liegt mit 3,6% deutlich unter dem Schnitt von 7,8% in der Euro-Zone. Vier von fünf Niederländern arbeiten im Dienstleistungssektor. Die stark technologisierte Landwirtschaft ist sehr produktiv. Tulpen – nicht nur aus Amsterdam – und Käse sind wichtige Exportgüter und locken mit den zehn UNESCO-Welterbestätten ca. 16 Millionen Touristen jährlich ins Land.
In allen Lebensbereichen sind weltberühmte Niederländer zu finden: Maler wie Hieronymus Bosch, Rembrandt van Rijn, Vincent von Gogh, Wissenschaftler wie Erasmus von Rotterdam, Musikgruppen der 70er wie Golden Earring, Schriftstellerinnen wie Judith Herzberg oder die im Herbst 1917 von einem französischen Militärgericht wegen Spionage für das Deutsch Reich zum Tode verurteilte Tänzerin, Mata Hari. Heute sind es wohl eher Unternehmen wie der Unilever-Konzern, der Getränkehersteller Heineken, der Chemiekonzern Akzo Nobel, die Raffinerie Shell oder der LKW-Hersteller DAF, die großen Häfen Rotterdam, Amsterdam und der Flughafen Schipol sowie die Niederländische Fußballnationalmannschaft „Oranje“, für die das Land in der in der Welt bekannt ist.