Der rote Faden: Veränderungen, Umzüge und Neuanfänge Erika Matteikat aus Ungarn

Erika Matteikat aus Ungarn

Veränderungen, Umzüge und Neuanfänge sind der rote Faden im Leben von Erika Matteikat. "Das war schon ein ziemliches ‚Zigeunerleben‘ ", sagt sie selbst, streichelt Jafar, eine ihrer beiden Katzen, die wohlig schnurrt und fängt an zu erzählen.

Hat die Sowjetunion aus Ihrer Sicht das Recht in Afghanistan aktiv zu sein?

Vor 57 Jahren kam sie in Szolnok an der Theiß, südöstlich von Budapest in Ungarn zur Welt. In Rákózifalva, noch etwas weiter im Süden wuchs sie auf. Hier besuchte sie auch die Schule, wechselte nach der 8. Klasse ans Gymnasium. „Kurz vor dem Abitur wusste ich noch nicht, was ich machen wollte. Als einzige in der Klasse mochte ich Russisch und dachte an Literatur oder auch Mathematik: Da schlug meine Freundin vor, Informatik zu studieren und Programmieren zu lernen. In Ungarn wurden damals überall mündliche Aufnahmeprüfungen eingeführt und wir hofften, an der Universität in Szeged ohne Prüfung aufgenommen zu werden. Aber das klappte nicht. Oh, war ich aufgeregt. Und dann, es war 1980, fragten sie: Hat die Sowjetunion aus Ihrer Sicht das Recht in Afghanistan aktiv zu sein?“ – Was sollte ich da antworten?“

in der DDR keine Bedenken, die Kinder großzuziehen

Im Studiengang ‚Informatik‘ wird sie Gruppenleiterin, hilft Studienanfängern und lernt so auch die Gaststudenten aus dem Ausland kennen, darunter auch die aus der DDR. Einer von ihnen, Stefan aus Schwerin, studiert „angewandte Mathematik, lernt Ungarisch und wird ihr Freund. „Unsere Hochzeit 1984 war wirklich ein großes Fest!“, lacht sie bei der Erinnerung daran, „Freunde und Familie aus Ungarn und der DDR, tolle Musik mit der Ziehharmonika. Ungarisch eben.“ Die Frischvermählten ziehen mit dem ersten Sohn, János, nach Schwerin. Hier kommen wenig später Daniel und Julia zur Welt. „Wir haben im Kabelwerk gearbeitet, hatten anfangs eine 1 ½ Zimmer-Wohnung und Aussicht auf eine größere. Die soziale Sicherheit in der DDR war gut. Ich hatte nie wirkliche Bedenken unsere 3 Kinder großziehen zu können. Das ist heute anders, wo Kinderschuhe teurer sind als ein Paar in Größe 43.“

Und doch, auch wenn ihr die gut geordneten Warteschlangen an den Bushaltestellen der DDR gefielen, die vor den Läden und Restaurants mochte sie nicht. „Oft hatte ich ein Gefühl der Enge. Wir wollten auf dem Schweriner Fernsehturm etwas Essen, mussten warten. „Sie werden platziert“ hieß es. Es gab freie Plätze am Fenster, da hätte ich gerne gesessen. Doch die Kellnerin führte uns an einen Tisch in der Mitte. Wir sind wieder gegangen. In Ungarn kannten wir das nicht. Da war es freier.“ Und so geht die Familie im Winter 1988 zurück nach Ungarn. Sie leben in Rákózifalva. Stefan Matteikat programmiert für MTI, die ungarische Nachrichtenagentur. Eines Tages, im Frühjahr 1989, stehen 2 junge Männer aus der DDR vor der Tür und bringen Grüße von der Schwiegermutter aus Schwerin. „Wir wussten sofort, da stimmt was nicht. Meine Schwiegermutter war einige Monate zuvor gestorben.“, sagt sie nachdenklich, „Vielleicht wäre manches anders gelaufen, hätte ich gewusst, dass die Wende kommt.“ Nach zwei sozialistischen Systemen, nun also der Übergang in die kapitalistische Welt in der Republik Ungarn.

Die Wende in Ungarn

In Szolnok unterrichtet Erika Matteikat zunächst Deutsch am Gymnasium. Das geht nach der Wende eine Weile auch ohne Pädagogikstudium. Später ziehen in die Nähe von Budapest, für Stefan wird der Weg zur Arbeit kürzer. Erika geht an eine Berufsschule, arbeitet für Bosch als Sekretärin, als Redaktionsassistenz für eine ungarische Variante von „Ein Herz für Tiere“. Eine österreichisch-ungarische Papierfabrik sucht in Szolnok einen IT-Systembetreuer. Ihr Mann bekommt den Job und es geht zurück nach Rákózifalva. Hier ist Erika Matteikat eine Weile arbeitslos und nutzt die Zeit für ein Zusatzstudium der „Betriebswirtschaft“, schreibt ihre Abschlussarbeit zu einem Thema in der Papierfabrik und fängt dort im Versand an zu arbeiten. „Mein Chef hatte Zweifel, ob ich in der Männerwelt klarkomme, aber der Umgang mit den Fahrern fiel mir leicht. Naja, und 1998, Mutterschutz oder so etwas gab es damals nicht, habe ich bis Freitag gearbeitet und am Montag kam Doro auf die Welt. Ein halbes Jahr blieb ich zuhause und wechselte dann in den Vertrieb. Das Büro teilte ich mir meiner Chefin, einer Österreicherin. Mit ihr war ich oft unterwegs. Stefan fand 2000 einen tollen Job in München, er verdiente gut. Das Reisen zwischen Familie und Arbeit war anstrengend und 2002 zogen die Kinder und ich dann zu ihm. Allerdings ohne Daniel. Der sollte erstmal die Schule in Ungarn abschließen.“

Zurück in Deutschland

In München fühlt sich Familie wohl. Erika Matteikat hat eine gute Nachbarschaft, findet die bayrische Metropole kinderfreundlich. Nur Arbeit findet sich nicht so leicht. Als Packerin jobbt sie in einem Gartencenter. Stefans Arbeitgeber macht Pleite und so machen sich die Matteikats 2004 erneut auf den Weg nach Schwerin. „Unsere Jüngste, Wilhelmine, wird hier geboren. Wir hatten eine super 5-Zimmer-Wohnung auf dem Dreesch. Stefan fing bei der WEMAG an.“ Und das Leben hier? „Die Leute wirken manchmal unfreundlich, aber wenn man sie kennenlernt, wird das anders!“, schmunzelt sie. Ihr Leben in der Landeshauptstadt bleibt sehr abwechslungsreich: Maßnahme 50plus, Bürgerarbeit, Fabrikarbeit, Zeitarbeit, Ausbildung zur Fachkraft für Finanz- und Lohnbuchhaltung, ein Job im Weltladen, Beleuchtungsstatistin am Schweriner Theater. „Als Komparsin im „Froschkönig“ musste ich als Frosch: „Quak, Quak, Quak“ sagen. Und der König antwortet: „Quak, Quak.“, lacht sie.

Einen festen Job findet sie nicht. 2011 stirbt ihr Mann an einem Herzinfarkt. Die Kinder gehen nach und nach aus dem Haus. Mit den Jüngsten zieht sie in die Innenstadt. Sie übernimmt einen Kleingarten in Medewege und seit dem letzten Sommer sitzt sie bei REAL an der Kasse. „Weihnachten waren wir eine Woche in einem Ferienhaus in Dänemark, mein Enkel, meine Eltern, meine Kinder und ich. Das war wunderschön.“, strahlt sie und es wird klar, dass neben den vielen Veränderungen und Neuanfängen, die sie mit Energie und Lebensfreude wie selbstverständlich meistert, ihre Familie die zweite Konstante in ihrem Leben ist. Und auf dem Marktplatz gibt es hin und wieder ein ungarisches Lángos.

Dieser Artikel ist (gekürzt) auch erschinen in der Schweriner Volkszeitung SVZ 2019-03-11.

Länderinfo Ungarn

Manche, der fast 10 Millionen Einwohner Ungarns sagen, Victor Orban, Ministerpräsident, führe einen Privatkrieg gegen George Soros, den in den USA lebenden Investor ungarischer Herkunft, der mit seinem Vermögen unter anderem Bürgerrechtsorganisationen, Bildungseinrichtungen sowie politische Aktivisten unterstützt.

Richtig ist, dass sich das Land, seit 1999 Mitglied der NATO und seit 2004 Mitglied der EU, unter Orban nach rechts entwickelt. In der Rangliste der Pressefreiheit 2017 von Reporter ohne Grenzen rangiert Ungarn auf Platz 71 von 180 Ländern.

Wirtschaftlich hat sich das Land, das viele mit Plattensee, Puszta, Thermalquellen und Salami verbinden, recht schnell in der Marktwirtschaft zurechtgefunden. Der Tourismus, mit mehr als 15 Millionen Besuchern pro Jahr, ist traditionell eine wichtige Einnahmequelle. Die Bedeutung der Industrie und der Exporte wächst. Etwa ein Drittel der Ausfuhren gehen nach Deutschland. Hauptexportgüter stammen aus dem Maschinenbau und der Fahrzeugindustrie. Wichtige Industriestandorte sind vor allem der Raum um die Hauptstadt Budapest und die Grenzregion zu Österreich. Zahlreiche Unternehmen sind in ausländischem Besitz. Das größte ungarische Unternehmen ist der Mineralölkonzern MOL, an zweiter Stelle folgt die Audi Hungaria Motor.