Darf ich bitten?! Gustavo Vidal Collao aus Chile

Gustavo Vidal Collao, Chile

Darf ich bitten? An der Wand ist ein großer Spiegel, CDs liegen vor der Musikanlage. „Als ich vor mehr als 20 Jahren nach Europa ging, war Deutschland nicht mein Ziel. Mein Ziel war Spanien. Die Familie meines Vaters stammt aus der Nähe von Barcelona. Dort fuhr ich hin und wollte als Tangolehrer arbeiten.“, sagt Gusatvo Vidal, den es aus Santiago de Chile, der Hauptstadt Chiles bis nach Schwerin führte.

Geboren ist Gustavo Vidal 1962 in der Hafenstadt Valparaiso. Er wächst bei der Mutter mit seinen zwei Schwestern in Santiago auf. Gusatvo ist elf Jahre, da verschwindet sein Vater nach Kanada. Sie sehen sich nie wieder. Doch spielt der Vater eine prägende Rolle für den Jungen. „Mein Vater war Musiker. Er spielte trombón, also Posaune. - Und ich kann ohne Musik nicht leben.“, so Vidal, der mit 14 Jahren an der Valero Academy in Santiago de Chile Jazzdance, Folklore, Stepdance und Choreographie zu lernen beginnt.

Mit 19 Jahren entdeckt er seine Liebe für den Tango Argentino. „Das war vielleicht eine Zeit. Ich habe an einem Kolleg Steuerberatung gelernt, in der Metallindustrie und später in einer Bank gearbeitet. Ich war schnell und ich war gut, besonders an der Rechenmaschine.“, lacht Vidal. „Aber meine Leidenschaft war das Tanzen, der Argentinische Tango.“ Der junge Gustavo Vidal geht an die Quelle. In Buenos Aires, Argentinien lebt und lernt er einige Jahre bei den Meistern des Tangos: Antonio Todaro, Graciela Gonzales, Gustavo Naveira, Juan Carlos Copes, Pepito Avellaneda und Mingo Pugliese prägen seinen Stil.

„Tanzen war das Wichtigste. Tagsüber bis 18 Uhr arbeiten und dann Tango tanzen bis 4 Uhr morgens. 2,3 Stunden schlafen und wieder los zur Arbeit. Einige der Tänzer haben sich damals mit Kokain fit gehalten, manche haben das nicht überlebt.“ Gustavo Vidal nennt diesen Lebensabschnitt „Bohème“. Dieser Begriff, steht für einen Lebensstil, für den Wunsch, bürgerliche Werte und Normen zu überwinden, die Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und kreativer Freiheit. Er passt zu Vidals leidenschaftlicher Hingabe an den Tanz, vor allem, weil sie nicht zum Broterwerb reicht. „Präsentationen auf der Bühne, Shows, ein paar Privatstunden, das reichte nicht zum Leben. Der Besuch der Tango-Akademie war sehr teuer. Darum habe ich sie auch nicht abgeschlossen. Leider.“

Zurück in Chile arbeitet er bis 1996 als Tanzlehrer, Choreograph und Showtänzer am Ballett-Theater National in Santiago. Dort erarbeitet er eine Choreographie für ein Tango-Ballett. Gustavo Vidal sagt: „Ich wollte nur noch Tango machen und auch davon leben.“ Er hofft, das könne in Barcelona, Spanien gelingen und macht sich auf die Reise. Geklappt hat das nicht. In Spanien hält er sich mit kleinen Jobs über Wasser, arbeitet schwarz auf dem Bau.

Die Wende in seinem Leben kommt überraschend und zufällig. Auf der Flaniermeile Barcelonas, den Ramblas, läuft ihm Isabell über den Weg. Sie kennen sich bereits aus Chile. „Isabell kam auf mich zu und sagte: Gustavo, was machst Du denn hier? Wenn es hier nicht läuft, komm doch mit mir nach Hamburg!“ Dort lebte Isabell mit ihrem Mann. „Aber ich habe gedacht, was soll ich da? Ich spreche kein Deutsch und überhaupt, Deutschland war nicht mein Ziel. Ich habe Nein gesagt.“ Die alte Freundin schwärmt von der lebendigen Tango-Szene in Hamburg und Berlin und Gustavo Vidal erkennt die Chance, seinen Traum vielleicht doch noch Wirklichkeit werden zu lassen. Er folgt Isabell an die Elbe.

„Ein paar Argentinier haben mir am Anfang geholfen. Aber meine größte Hilfe war Marie-Paul Renaud aus Frankreich. Sie war die Pionierin des Argentinischen Tango in Hamburg. Ich wurde ihr Tanzpartner. Zuerst schlief ich nachts in ihrem Studio, dann fand ich eine Wohnung in der Paulinenstraße.“ Er bleibt und schafft es, sich in der Szene zu etablieren. Mit seiner Lebensgefährtin Inis Trosky zieht er nach Hannover. 2002 kommt der gemeinsame Sohn Jordi zur Welt. Nach der Trennung ziehen Inis und Jordi in die Umgebung von Bützow. Vidal geht zunächst zurück nach Hamburg. Nach Schwerin zieht er 2010.

Auch hier unterrichtet Gustavo Vidal mit viel Spontaneität und Humor den Tango Argentino. Er legt Wert auf eine gute Basis mit dem Ziel, Weichheit, Eleganz und Geschmeidigkeit im Tanz zu entfalten. „Tango ist sinnlich, melancholisch. Man tanzt ihn mit dem Herzen.“ sagt er, steht auf und macht mit gerader Haltung ein paar Tanzschritte durch den Raum. „Auch wenn einige Männer hier es mit dem Kopf versuchen.“, lacht er. „Schwerin ist zwar ‚tote Hose‘! Keine Uni, nur alte Leute. Aber ich fühle mich hier wohl.“

Vidal gibt zwei oder drei Kurse pro Woche in der Musik- und Kunstschule ATARAXIA e.V., gelegentlich auch ein paar Einzelstunden. „An zwei Tagen pro Woche unterrichte ich noch in Hamburg. Ich mache auch Workshops in München, Bremen oder dort, wo mich die Leute buchen. Da genieße ich die Balance zwischen der Ruhe hier und der Hektik anderswo.“ Im Oktober wird Vidal für zwei Monate nach Chile reisen. Zuletzt war er mit seinem Sohn im vergangenen Jahr dort. „Ich freue mich auf frische Muscheln, Fisch und den chilenischen Wein. Und auf die Wärme der Leute dort. Und auf ein paar Stunden Tango.“

Der Artikel ist gekürzt auch in der Schweriner Volkszeitung vom 16.09.2019 erschienen

Länderinfo Chile

Die Republik Chile, gut doppelt so groß wie Deutschland, zieht sich im Südwesten Südamerikas als schmaler Streifen über 5.350 km entlang der Pazifikküste in Nord-Süd-Richtung. Die chilenischen Anden bilden einen der höchsten Gebirgszüge der Welt. In der Sprache der Aymara bedeutet ch'iwi „kalt“ oder auch chilli „Ende der Welt“.