Lettin zu sein ist schon fast ein Beruf Laima Priede aus Lettland

Laima Priede, Lettland

Sie nennt sich selbst die lettischste Stadt in Lettland. Und es ist die Stadt mit den meisten Wolken. Doch bekannt ist Rujena im Norden Lettlands für die Wälder drumherum und das Speiseeis der örtlichen Molkerei. Mehr als 20 Sorten Speiseeis werden dort hergestellt. Hier ist die Heimat von Laima Priede.

„Das war ein bisschen wie Astrid Lindgren es beschrieben hat, so wie in Bullerbü!“, lacht Laima Priede, wenn sie von ihrer Kindheit erzählt. Von der Großmutter, bei der sie aufwächst. Von den Ferien auf dem Bauernhof, den Wäldern und Feldern. „Das war Freiheit ohne Grenzen. Kühe und Schafe und Kälber und Schweine, Katzen und Hunde und ganz, ganz viel Raum. Wir hatten unseren eigenen Wald. Das war zu Sowjetzeiten und natürlich gehörte der Wald dem Staat, aber wir Kinder wussten: Das ist unser Wald. Wir konnten da spielen, waren uns selbst überlassen.“ Wie in den Geschichten aus Bullerbü organisieren auch Laima, ihre Schwester und die anderen Kinder sich weitgehend selbst. „Wir haben uns verkleidet und einen Märchenabend aufgeführt. Wir hatten unsere eigene Bibliothek und haben sogar eine eigene Zeitung herausgebracht. Na, und natürlich haben wir auch im Stall, im Garten und auf den Feldern geholfen. Das gehörte auf dem Bauernhof dazu.“, ergänzt sie.

Ihre Großväter hat Laima Priede nicht kennengelernt. Der Vater ihrer Mutter starb kurz nach der Okkupation. Die Familie ihres Vaters wurde 1941 aus Lettland deportiert. „Da war mein Vater 3 Jahre alt. Mit seinen jüngeren Geschwistern und der Mutter kamen sie nach Sibirien. Sie waren von den Männern getrennt. Viele, auch mein Großvater, wurde irgendwo auf dem Weg erschossen.“, sagt sie. „Das ging vielen lettischen Familien so. Eigentlich waren alle betroffen, direkt oder indirekt. Nach der Rückkehr durften die meisten nicht zurück in ihre Häuser.“, so Priede. „Meine Großmutter hat immer gesagt, egal welche Soldaten während des Krieges kamen, die Deutschen oder die Russen, ich habe ihnen immer etwas zu essen gegeben. Alle Soldaten sind doch Kinder einer Mutter.“, sagt sie. „Und auch mein Vater, der ja als Kind in Sibirien war, hat immer betont, dass Völker, Kultur und Sprache etwas anderes sind als die Politik. Das hat mich sehr geprägt.“

Der Bauernhof, auf dem die Großmutter lebt, ist für Laima Priede für lange Zeit eine Insel. Drumherum sieht es anders aus. Das Gutshaus in der Nähe wird zum Stall und später zum Speicher für Getreide. Es verfällt. Manche Häuser werden abgerissen und woanders wieder aufgebaut. Viele der Deportierten kehren nicht zurück.

Die Zeit in der Grundschule hat Laima Priede in besonderer Erinnerung. „Unser Schulleiter war ein Visionär. Er war Agronom, kein Pädagoge. Die Schule war in einem alten Gutshaus. Der Park drumrum war seine Diplomarbeit. So wurde er durch Zufall Lehrer. Neben dem klassischen Lernen konnten wir unglaublich vieles selber machen und unsere Fähigkeiten entwickeln. Das, was man nach und neben den Unterrichtstunden macht, war mindestens ebenso wichtig. Wir hatten den Garten, mehrere Chöre und führten Theaterstücke auf.“

Wenn sie nicht bei der Großmutter ist, arbeitet Laima Priede in den Ferien. Sie verzieht Rüben. „Nein, Spaß hat das nicht gemacht. Aber es ging von Jahr zu Jahr leichter und von dem verdienten Geld konnte ich mir einen Schreibtisch kaufen.“, sagt sie. - Die Zeit des Abiturs ist auch die Zeit der Wende in Lettland. Gemeinsam mit den Lehrern gehen die Abiturienten auf die Straße. Laima überlegt, Lehrerin zu werden und entscheidet sich anders.

„Nach der Wende gab es plötzlich so viele neue Möglichkeiten. Da wollte ich mich nicht gleich festlegen.“ Sie studiert Sprachwissenschaften an der Universität in Riga. Lettisch, Russisch, Deutsch und Englisch sind die Sprachen, in denen sie sich bewegt. Als Au-Pair-Kraft kommt sie 1994 erstmals nach Deutschland. 6 Monate ist sie in Hamburg. Praktika führen sie in den Deutschen Bundestag und zum Sender „Deutsche Welle“ in Bonn. Während der Weltausstellung 2000 in Hannover arbeitet sie im lettischen Pavillon.

Eine Leidenschaft hat sie für Sprichwörter. In ihrer Magisterarbeit vergleicht sie Sprichwörter aus Deutschland und Lettland und findet viele Gemeinsamkeiten. Sie schreibt gern. Schon als Schülerin für eine lokale Zeitung. Und sie organisiert gern. „Im Bereich Public Relations, also der Öffentlichkeitsarbeit, konnte ich das nach dem Studium gut miteinander verbinden.“, so Priede. Zurück in Riga organisiert sie die Öffentlichkeitsarbeit für Bildungsprojekte, leitet den PR-Bereich eines Unternehmens und macht sich mit einer Partnerin selbstständig. „Besonders gerne habe ich Kommunikationstraining für lettische Polizisten veranstaltet. Sie konnten lernen, besser mit den Bürgern und der Presse umzugehen.“

In Riga lernt sie Ernst Ulrich Deuker kennen. Er kommt aus Deutschland. Eine Zeitlang geht es zwischen Lettland und Deutschland hin und her. „Wir haben viel geskypt. Aber eine Fernbeziehung ist nichts für uns.“, schmunzelt Laima Priede und so einigen sich die Zwei 2010 auf Schwerin als Lebensmittelpunkt. Hier kommt auch Tochter Paula zur Welt.

Lettland spielt auch weiterhin eine wichtige Rolle im Leben der Familie. In den Schulferien geht es in die Wälder und Felder Rujienas. In Hamburg und Berlin organisiert die lettische Community Sprachunterricht, Kulturtreffen und Familienfreizeiten. Und da ist Laima Priede dabei. „Lettin sein ist manchmal schon wie ein Beruf.“, lacht sie.

Aber nun ist sie doch noch Lehrerin geworden. Durch einen Zufall bekommt sie eine Broschüre der Schweriner Waldorf Schule in die Hände. Sie besucht das berufsbegleitende Seminar, und wenn sie davon erzählt, dann klingt es bekannt: „Wir lernten da sehr selbstverantwortlich, organisieren vieles selbst und tragen Verantwortung dafür, wie wir uns als Lehrkräfte entwickeln.“, meint Laima Priede. Heute unterrichtet sie Russisch für die Jahrgänge 1 bis 5. „Das Kind ist für mich das Wichtigste, nicht der Stoff.“, sagt sie. Und das kann bei ihrer Kindheit ja auch kaum anders sein.